Freitag, 19. Dezember 2008

Dornröschen im Indischen Ozean....


VON SILKE BENDER
Fünf Uhr morgens, die Sonne geht gerade auf. Wenn auf Mauritius Discos und Strandbars schließen und die letzten Touristen in ihre Hotels torkeln, beginnt auf der Schwesterinsel Rodrigues, knapp 600 Kilometer weiter östlich, bereits der neue Tag. Arlette und Marguerite sind seit einer Stunde wach, haben eine halbe Stunde Fußmarsch aus ihrem Bergdorf hinter sich und schlüpfen am Strand von Anse aux Anglais in ihre Gummistiefel. Dann setzen sie den Strohhut auf, zücken ihre selbst geschmiedeten Eisenhaken und waten hinaus in die große Lagune, deren Wasserstand bei Ebbe gerade bis zum Bauch reicht. Wie vor hundert Jahren gehen Tintenfischstecherinnen ihrer Arbeit nach, während die Männer den Netzfang auf ihren Piroggen betreiben. Auf dem Samstagsmarkt in der Inselhauptstadt Port Mathurin, wo jeder jeden mit einem lächelnden «Bonjour» begrüsst, herrscht zeitgleich emsiges Treiben. Schon in der Nacht haben die Kleinbauern ihr Obst und Gemüse gestapelt – in Ermangelung von Pestiziden ist hier alles bio –, und wer erst um acht Uhr morgens kommt, darf sich nicht beschweren, wenn der Salat ausverkauft ist. Nebenan im Hafen Rodeoszenen. Kreolische Cowboys mit Stetson-Hut und Westernhemden treiben Rinder, Ziegen und Schafe in die Container der Mauritius Pride, dem wichtigsten Versorgungsschiff der Insel, das zwei bis dreimal im Monat zwischen Mauritius und Rodrigues pendelt.Und die jungen Mädchen, die in High Heels und Miniröcken vorbeiziehen, kommen nicht aus einer Disco, sondern gehen in die Morgenmesse, der Kontaktbörse der katholischen Insulaner. Man muss früh aufstehen auf Rodrigues, will man die wichtigsten Spektakel nicht verpassen. Diese kleine Insel, gerade mal 8 Kilometer breit und 18 Kilometer lang, lebt seit ihrer Besiedlung im 18. Jahrhundert im Rhythmus der Natur. Sonnenauf- und Sonnenuntergang und die Gezeiten bestimmen das Leben.Fischfang, Gemüseanbau, Viehzucht sind Haupterwerbsquellen der knapp 40 000 Einwohner, die sonst unter hoher Arbeitslosigkeit leiden. Politisch gehört Rodrigues seit 1968 zu Mauritius, nur gibts hier keine Staus, keine Industrie, keine Designhotels, keine Fastfoodketten und Shoppingmalls. Und trotz Armut nahezu keine Kriminalität.

Wer hier privat ein Zimmer mietet und keinen Schlüssel in die Hand gedrückt bekommt, muss sich nicht wundern: Einbrüche sind fast unbekannt. Während sich das quirlige Mauritius mit seinen meist indischstämmigen Bewohnern und den bunten Hindutempeln anfühlt wie Asien, ist man auf dem gemächlichen, ländlichen Rodrigues in Afrika. Die Mehrheit der Menschen sind Kreolen und katholisch, ihre Vorfahren sind ehemalige Sklaven aus Moçambique oder Madagaskar. Man spricht Kreol oder Französisch, obwohl Englisch Amtssprache ist. Früher mussten sich die Insulaner gegenüber ihren zunächst französischen, dann britischen Klonialherren behaupten, heute gegen das Hindu-dominierte Mauritius, das das ferne Rodrigues lange als Fleisch- und Gemüsekammer nutzte und ansonsten links liegen ließ. Erst in den frühen 90er-Jahren wurde das Stromnetz flächendeckend fertig gestellt, seit 2003 gibt es hier Handyempfang.Nur 50 000 Touristen nahmen im letzten Jahr die eineinhalb Flugstunden von Mauritius auf sich, um die schöne Unbekannte zu erkunden. Zugegeben, über die paradiesischeren Palmenstrände verfügt Mauritius, und wer High-Class-Service und Entertainment wünscht, ist dort sicher auch besser aufgehoben. Rodrigues ist eher eine herbe Schönheit und eine Insel für Individualisten, die Natur und Ursprünglichkeit suchen: Wanderer,Mountainbiker, Angler, Hochseefischer und Taucher finden hier unberührte Gebiete weitab touristischer Trampelpfade. Tropfsteinhöhlen, unbewohnte Inselchen wie das unter Naturschutz stehende Vogelparadies Ile aux Cocos oder das Schildkrötenreservat Francois Leguat laden zu Ausflügen ein. Und die schönsten Badestrände wie Anse Ally, Trou d’Argent oder Baladirou sind nur zu Fuß wandernd zu erreichen. Dort liegt man dafür meist allein – nicht unter Kokospalmen, sondern unter Filaos, einer tropischen Kiefernart. Und statt fliegender Händler kommen ein paar Kühe oder Ziegen vorbei.

Das Korallenriff umschließt die Insel wie ein Heiligenschein

Die bergige Insel ist karger als die große Schwester. Die grünen Hügelpanoramen mit weidenden Schafen, die sich im Süden der Insel auf der 53-Kurven-Strasse Richtung Anse Mourouk eröffnen, erinnern fast an Irland – leuchtete da nicht in allen Türkisschattierungen die Lagune, zweieinhalbmal so groß wie die gesamte Insel. Begrenzt wird das magische Farbschauspiel nur durch das Korallenriff, das die Riesenbrecher des Indischen Ozeans abfängt und dessen weisßer Wellenkranz die Insel wie ein Heiligenschein umschliesst.Linker Hand tanzen die Segel der Kitesurfer im Wind, das charmante, typisch kreolische Hotel Mourouk Ebony mit seiner Surfschule und Tauchbasis ist ihr Hauptquartier und ein absoluter Geheimtipp. «Nirgends auf der Welt gibt es so grandiose Kitesurfbedingungen wie hier», schwärmt der Franzose Didier an der Strandbar des Hotels, seit Jahren Stammgast. Das Mourouk Ebony gehört mit seinen 30 Bungalows zu den drei größeren Hotels der Insel, neben dem luxuriöseren Pointe Venus auf dem Hügel über der Inselhauptstadt Port Mathurin und dem ebenso schicken Cotton Bay direkt am malerischen Strand Pointe Coton.

Schon die Wasserknappheit auf der Insel, Folge der rücksichtslosen Rodung der Edelholzwälder in der Kolonialzeit, verbietet einen Massentourismus à la Mauritius.Rodrigues sucht daher einen anderen, sanften Weg in die Zukunft. Wer auf Minibar und Pool verzichten kann, ist persönlicher und preiswerter in den «Gîtes» aufgehoben, den zahlreichen privaten Pensionen der Einheimischen. Die lustige Jeannette Baudoin hat sich so neben dem Gemüseanbau ein zweites berufliches Standbein geschaffen. Sie vermietet einfache, farbenfrohe Bungalows im grünen Hinterland und bietet gleichzeitig eine Table d’Hôte an – kreolische Küche auf Bestellung. Zum Beispiel köstliches Tintenfischcurry, Maniokkroketten, Süßkartoffelchips, Papayasalat und Maisbrei. Und nach dem üppigen Mahl gibt sie hüftsteifen Europäern auch gern einen Crashkurs im traditionellen Segatanz.

Die Mauritianerin Marie-Line Comarmond ist Künstlerin und ehemalige Modedesignerin. Mit
ihrem belgischen Ehemann Fernand betreibt sie eine Art kleinen Luxus-Gîte, liebevoll handdekorierte Zimmer im Kolonialstil, stellt Gourmetkonfitüren, Weine, Liköre und Honig her und bewirtet ebenfalls angemeldete Gäste mit einer raffinierten europäisch-kreolischen
Fusionsküche. Das erst Ende 2006 eingeweihte Tourist Office in Port Mathurin hilft bei der Zimmersuche weiter. Alle warten auf den Ausbau des Inselflughafens und Direktflüge aus La Réunion oder gar Europa – und fürchten ihn ebenso. Denn sie wissen um ihr kleines Paradies,wo die Zeit stehen geblieben zu sein scheint und das gleichzeitig eine Zukunft braucht.

Dieser Artikel erschien am 28. September in der Schweizer Sonntagszeitung. Silke Bender stellte uns freundlicherweise ihren Artikel sowie einige Fotos zur Verfügung. Dieser Artikel ist copyrighted. Vielen Dank, Silke!

Sorry, this is the original text of an article published in Swiss "Sonntagszeitung". The author, Silke Bender, allowed us to share it here. Unfortunately it is for the time being only in German.

1 Kommentar:

  1. Guten Morgen bzw. bei Dir schon Mittag, liebe Birgit, Du fleißige,schnelle, fröhliche und kreative 'Dame vonne Insel'

    Erstaunlich, wie Du alle Highlights hier und dort treffsicher findest und aufgreifst und uns allen zu meiner großen Freude zugänglich machst. Der Artikel von der großen Rodrigues-Freundin Silke ist sehr schön gechrieben. Ich habe mich gerade für ein paar Minuten sozusagen auf Eurer Insel nieder gelassen. War schön. Obwohl wahrlich kein Luxuspüppchen, fürchte ich, bin ich selbst doch eher der etwas Luxus schätzende Tourist (Schande ..), aber ich finde es wichtig und richtig, dass einige Plätze auf Erden in dieser Hinsicht nicht überzivilisiert werden. So etwas mit "nahe 0" Kriminalität habe ich bisher nur auf Cypern kennengelernt, wo mir eine dort mit ihrer Familie lebende Britin erzählte, dass man auf der Insel das Haus ständig unverschlossen lassen könne. BTW, meine Schwester macht das auf einem deutschen größeren Dorf auch, was mir immer noch etwas seltsam ist; denn bei uns kann man so etwas eigentlich nicht unbedingt, ohne böse Überraschungen zu riskieren. Aber bis jetzt ist seit Jahren alles gut gegangen.

    Deine Plätzchen sehen ja sehr verlockend aus. Ich muss gestehen, dass ich nur noch wenig bis nichts mit Weihnachten am Hut habe und auch keine Geschenke mehr mache (wenige Ausnahmen bestätigen die Regel), jedoch kann ich immer noch - allerdings inzwischen ohne Bedauern oder gar Bitterkeit -, das Weihnachtsfeeling, das so viele ab einem bestimmten Zeitpunkt im Winter beschleicht, gut nachvollziehen.

    Ich kann mir ganz gut vorstellen, dass man nach langer Zeit "fern der Heimat", so wie Ihr, sogar so etwas wie Sehnsucht nach gewissen Gerüchen und Atmosphären der "heimatlichen" Weihnachtszeit verspürt!?

    Ganz liebe Grüße auf die Insel und Euch und Euren Insel-Freunden jetzt schon einen guten Jahresauslauf und einen fröhlichen Start in ein existenzsicheres, gesundes und erfreuliches Jahr 2009

    Dumba

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