Mittwoch, 25. März 2009

"Mit Hut und Speer aufs Riff...." - Die Tintenfischstecherinnen von Rodrigues

Tintenfischstechen ist Frauensache. Zumindest in Rodrigues, wenn auch gerade im Norden zuweilen und oft zur großen Überraschung ebenfalls ein paar Männer bei dieser Tätigkeit gesichtet werden können. Im Jahr 2008 hatte Rodrigues 1919 registrierte Fischer, davon 722 Frauen, die fast alle in erster Linie als piqueuses d'ourites ihren Lebensunterhalt verdienen. Hier ein Artikel des deutschen Journalisten Thomas Worm , der in der November-Ausgabe 2003 im Merian-Heft (Mauritius, Reunion) erschienen ist. Die leicht aktualisierte Fassung des Artikels konnte vor wenigen Monaten auch in der Für Sie nachgelesen werden.

Mit Hut und Speer auf das Riff von Thomas Worm Alles andere als ein Ausflug in die Lagune ist das - obwohl die Kleider der Frauen farbenfroh im Tropenwind flattern. Spähend beugt sich Yolan de vor, um den Korallenblock in Augenschein zu nehmen. Im knöcheltiefen Wasser steigen winzige Blasen auf. DieGoldohrringe der Jägerin tänzeln, als sie ihren Metallspeer in Stellung bringt. Dann sti cht sie zu. Der Speer bohrt sich in die Korallenhöhle. Yolande zieht ihn hervor – keine Beut e. Immer wieder sticht sie nach, so daß die Lockenwickler unter ihrem weiten Strohhut zittern.

Aus einiger Entfernung scheint die Tintenfischstecherin auf dem Wasser zu stehen. Aber es ist das Riff, das der zurückflutende Ozean nur widerwillig freigibt. Yolande steht weit draußen im Meer. Mindestens eine Meile vom Ufer entfernt, wo in der Morgendämmerung die vertrauten Inselberge von Port Sud-Est noch vor sich hinträumen. Sie schiebt ihren Arm tief in das dunkle Loch, tastet nach dem ersehnten Fang. Tagelang konnte sie keinen Oktopus finden, denn der Zyklon „Kalunde“ hatte das aufgewühlte Wasser eingetrübt.Wolken streifen wie goldener Rauch den matten Mond. Yolande ist nicht allein. Viele einzelne Frauen wandeln über das Wasser; frühe Boote haben sie hier rausgebracht.Sie tragen ge blümte Blusen, Halsschmuck, knielange Faltenröcke. Und ihre Jagdspieße.Rodrigues – so heißt die Insel der Piqueuses d’Ourites. Der 800 Tintenfisch-Stecherinnen. Ein karger, vergessener Flecken Vulkanerde mit fast nordischer Anmutung. 104 Quadratkilometer klein, mitten im Indischen Ozean. Nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Frauen, die den Oktopus speeren, fast die Hälfte aller 2000 Inselfischer geht im Rock zur Arbeit.

Eine verschworene Schicksalsgemeinschaft sind sie, diese Piqueuses, die auf den Riffs in Gummistiefeln ihren Mann stehen. Sie wollen, sie müssen es tun. Um zu überleben. Denn die meisten stehen mit ihren Kindern ohne Ehepartner da: Witwen, Geschiedene, Sitzengelassene. Ihr Lächeln indessen verlässt sie nie. Der breitkrempige Strohhut ist ihr ganzer Stolz, das Wahrzeichen, mit bunten Bändern festgeknotet unter dem Kinn. „Die Piqueuses tragen ihn wie eine Uniform“, sagen Rodrigues Bewohner respektvoll. Sogar die behinderte Witwe Julie humpelt mit ihren 72 Jahren Tag für Tag zum Stechen an die Küste, benutzt ihre rostige Pike als Krücke. Dabei sanftmütig plaudernd.Überall auf der Insel streben jetzt im Morgenlicht weitere Gruppen pittoresker Frauengestalten dem Meer entgegen. Eine archaische Prozession, deren Speerspitzen ins flammende Himmelsviolett ragen. Auch Angelique, eine kokette Mittfünzigerin, ist mit einem halben Dutzend anderer Piqueuses unterwegs. Genau auf der entgegensetzten Inselseite von Yolandes Fangplatz – im Norden Rodrigues´.

Wie jeden Morgen bilden Angeliques Freundinnen eine Gruppe, wenn sie auf Oktopusfang gehen. Über zwei Stunden dauert es von ihrem Bergdorf Dans Bébé im Inselzentrum hinunter zur Grand Baie. 300 Höhenmeter zu Fuß durch Dschungelgrün und dann wieder kahle Hänge hinunter, um Busgeld zu sparen. Die Straße ist leer, und die Frauen in ihren auffälligen Kleidern laufen in Reihe – nebeneinander. „Weißt du, was der Unterschied ist zwischen Mauri tius und Rodrigues?“ , fragt Angelique und schiebt sogleich die Ant wort glucksend hinterher: „Auf Rodrigues kannst du jede Straße mit geschlossenen Augen überqueren“. Ihr üppiger Busen lacht mit, ewiges Gescherze der Piqueuses. Sie nennen es La Faya, die Kunst des Selbstvergnügens. Das hilft, wenn die Existenznöte groß sind, so wie jetzt. Bei alledem versäumt es die betagte Rosemay aus der Gruppe nie, Pflanzen und Blätter zu pflücken, die Kernely oder St. Darou heißen. Heilkräuter gegen Durchfall und Magenbeschwerden.Gelernt haben die Piqueuses ihr Handwerk oft von ihren Müttern und Großmüttern. Manche, wie die humpelnde Julie oder Marie Blaisy mit den starken Fingern , stellen dem Tintenfisch schon seit 50 Jahren nach. Damals wurde nur für den Eigenverbrauch gestochen und der Fang auf den inseltypischen Holzgestellen getrocknet, es gab weder Strom noch Kühlschränke. Erst seit den 90er Jahren ist das anders. Der Großteil des Inselfangs wander t mittlerweile in den Froster und landet auf Mauritius. Unersättlich ist der Hunger im Ferienparadies. Yolande, auf dem Riffplateau vor Port Sud-Est, bekommt inzwischen Unterstützung von einer anderen Piqueuse. Das ist üblich so. Die derbe, kräftige Frau will ihr helfen, an den verschanzten Oktopus zu kommen. Brachial versucht sie, mit ihrem riesigen Zweizack, ein sogannter Laté, die Korallenhöhle aufzustemmen. Das Kalkgehäuse knackt und ächzt. „Früher waren die erlegten Tintenfische mindestens doppelt so schwer“, erklärt Yolande , „heute ist jedes noch so kleine Exemplar wertvoll für uns.“

Fast klingt es wie eine Entschuldigung angesichts dieser Gewaltaktion. Das Aufbrechen der Korallenhöhle dauert länger als erwartet. Ungeduldig schaut Yolande sich um: Der weite Ring der Frauen auf dem Riff vollführt eine Bewegung wie das Meer, folgt in wiegenden Schritten der weichenden See. Dabei den Blick stets auf mögliche Verstecke gerichtet.Doch die Tintenfischstecherinnen müssen aufpassen. Bald schon kommt wieder die Flut – und das Boot, um sie abzuholen. Dann gilt es rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Jede der Frauen hier hat das Bild der Piqueuse im Kopf, die sie unlängst draußen vergessen hatten. Als man sie vermisste und das Boot umkehrte, war das Riff bereits überspült. Nur an einer Stelle ragte ein winziges Etwas aus dem Ozean: der Kopf der Frau. Sie stand auf einem Podest aus Korallen, das sie in ihrer Not aufgetürmt hatte. Über zwei Kilometer Luftlinie von Yolande entfernt sitzt Archange Ravane am Ufer unter einer Kasuarine. Der Experte vom Fischereiamt wartet auf die Piqueuses und macht sich Notizen. Ravane, ein Mann mit geschmeidigen Handbewegungen und sanfter Stimme, möchte wissen, wie sich der Tintenfischfang nach dem heftigen Zyklon entwickelt. Viele der Frauen hat er persönlich in Trainingsprogrammen betreut, ihnen Sicherheitsregeln beigebracht und wie der Oktopus auf schonendste Art zu jagen ist. Denn die Bestände sinken dramatisch.Ravane ist besorgt: „Die Piqueuses berichten, daß ihr Fang innerhalb des letzten Jahrzehnts dramatisch gesunken ist. 99 Prozent der gefangenen Tintenfische gehören der Spezies Octopus cyne an. Deren Durchschnittsgewicht beträgt normalerweise 640 Gramm.“ Er blättert in seinem Notizbuch. „Unsere Befragungen der Frauen haben ergeben, daß die meisten gestochenen Exemplare weniger als die Hälfte wiegen, also nicht mal 300 Gramm, manche sogar nur 80“. Nachdenklich starrt das dunkle Gesicht mit der afrikanischen Herkunft auf die smaragdfarbene Lagune, wo Yolande und die anderen in ihren Schwimmwesten als rötliche Punkte den Riffrücken bevölkern. „Das bedeutet, die Piqueuses fangen fast nur noch Jungtiere.“ Da sich diese Oktopusart nur einmal während ihres kurzen Lebens von 18 Monaten vermehrt, könnte die Jagd auf Jungtiere letztlich zur Vernichtung des Bestandes führen. Grund, Alarm zu schlagen. Ravane - so lautet auf der Insel eigentlich der Name für die traditionelle Trommel. Fischereiexperte Archange Ravane möchte gern trommeln, für den bedrohten Tintenfisch. Doch hört ihn wirklich jemand? Weit draußen in der Bucht zieht Yolande den Arm aus dem zerplatzten Korallenblock. Tentakel in glitschigem Rot umsc hlingen ihre glatte Maronenhaut. Der Krake ist kaum größer als eine Faust, ein Zwerg. Zwei harte Schläge auf seine Augen und das Schlängeln erstirbt. Zzzpptt, es schmatzt wie Plastikklebeband, als Yolande die Saugnäpfe gekonnt vom Unterarm abzieh t. Ihre Unterstützerin mit dem Zweizack nickt anerkennend.Yolande muß sich beeilen. Es bleibt noch eine Stunde. An einer Strippe zieht sie ihren Kraken wie eine porzellanglänzende Marionette hinter sich her. Über Tümpel und Pfützen geneigt, in denen pelzige Seegurken dümpeln, sucht sie weiter nach den verräterischen Zeichen, nach verborgenen Polypen. Und knirschend platzt die tuffige Masse unter ihren Sohlen... Schaut man genauer übers Riff, wird auch klar, warum: Wie ein Geröllfeld erstrecken sich die verwitterten Korallentrümmer bis zum Horizont. Erst die nächste Flut wird ihren schimmernden Jadevorhang gnädig darüber breiten.

Schließlich stößt Yolande zu den anderen Frauen, die in der Mittagsglut am Riffkanal auf das Boot warten. Manche, die leer ausgegangen sind, bekommen einen Oktopus geschenkt oder auch einen gestreiften Picassofisch. Nehmen, was kommt. Untereinander kennt man die Misere an den kinderreichen Esstischen daheim. Yolande hat fünf Töchter und Söhne. Gerade in diesen Tagen ist es schlimm, da der Wirbelsturm fast das gesamte Obst und Gemüse von der Insel gefegt hat.Während der Meeresspiegel langsam die Waden empor kriecht, werden die Kraken rasch gesäubert: Tintenblase durchbohren, umstülpen und weit weg vom Rock austropfen lassen. Schwarz trübt die Tinte das Wasser. Plötzlich bäumt sich an der Riffkante eine Welle über den Köpfen auf, wild und graugrün. Der Himmel verdüstert sich. Die Gefahr auf dem Stück Korallenboden ist spürbar. Es sind nicht allein tödliche Steinfische, die zwischen Spalten lauern und Aale, die sich in den Sehnen verbeißen. Was, wenn das Boot nicht kommt?

Doch Tico, der wortkarge Fährmann, hat die Piqueuses nicht vergessen. In seinem Motorboot fällt alle Anspannung von ihnen ab. Sie ulken und feixen über das Fußballmatch im Satelliten-TV der letzten Nacht: Liverpool gegen die Celtics. Ausnahmslos jedoch sind sie Fans von Manchester United, ihrer Lieblingsmannschaft. Angelique und ihre Gruppe an der Grande Baie haben ihren vierstündigen Fangtag bereits hinter sich. In der Hütte eines Palmenhains machen sich die Tintenfischstecherinnen chic für die Stadt. Rouge auflegen, Haare toupieren, Nägel lackieren. Parfumwolken schweben in der Meeresbrise.Es wird geschnattert und gescherzt. Alles könnte so einfach sein. Fast ließe sich vergessen, wie arm die Piqueuses eigentlich sind, in Geld ausgedrückt.

Ihr Einkommen ist nur halb so groß wie der Durchschnittsverdienst: 2000 Rupien, rund 70 Euro im Monat. Weil aber lediglich an Tagen mit niedriger Tide gefischt werden kann und das auch nur bei gutem Wetter, zahlt der Staat als Ausgleich ein „Schlechtwettergeld“ - 125 Rupien für jeden ausgefallenen Fangtag. Das reicht gerade mal für ein Karton Mineralwasser am Kiosk. Und dennoch sind diese wenigen Rupien unverzichtbar. Um das Schlechtwettergeld zu erhalten, müssen sich die Piqueuses jeden Tag bei ihrer Arbeit an einer „Fishlanding Station“ von einem Beamten registrieren lassen. Dort, wo auch die Aufkäufer mit ihren Handwaagen im Baumschatten sitzen. Wer nicht schreiben kann, unterschreibt mit dem DaumenabdruckIm zerbeulten Bus, der über die Landstraße Richtung Port Mathurin schaukelt, bietet das Schlechwettergeld den Stoff für die Unterhaltung. Heute ist Zahltag, und die Frauen müssen in der Hauptstadt ihr Geld aus der Bank abholen. Viel Aufwand für geringen Ertrag. Immerhin, das Schlechtwettergeld ist ein Sozialsystem, eine Minimalabsicherung. Keine Selbstverständlichkeit in diesen Breiten. Doch das System hat unerwünschte Folgen. „Seit den 70er Jahren hat das Schlechtwettergeld immer mehr Frauen auf die Korallenbänke gelockt“, erzählt Angelique. Nun zertreten sie dort ihre Zukunft. Denn der Oktopus macht sich rar, weil er keine intakten Lebensräume mehr vorfindet. Ein Dilemma ohne Ausweg? Vielleicht nicht. Nur wenige Minuten von der Bank entfernt, wo hinter der Spiegelfassade eine lange Schlange herausgeputzter Piqueuses auf ihr Schlechtwettergeld wartet, liegt die Meeresforschungsstation Shoals. Die unscheinbare Bungalowanlage an der Hafenbucht vor Port Mathurin beherbergt ein kleines Team britischer Wissenschaftler. Hier werden Suchexpeditionen nach noch unbekannten Tellerkorallen geplant, aber nicht nur. Die Truppe um Forschungsleiter Tom Hooper versucht auch, für Tintenfische und Frauen eine Überlebenschance zu finden.(...)Hooper hält zudem eine gute Botschaft bereit: Fünf bis zehn Jahre - länger dauert es nicht - und ein zertrampeltes Riff hat sich unter normalen Bedingungen regeneriert. Vorausgesetzt man pflanzt kleine Koralleninseln, die den toten Riffkörper wieder besiedeln. Doch vorläufig ist das Vision. Denn der Oktopus macht sich rar, weil er keine intakten Lebensräume mehr vorfindet. Ein Dilemma ohne Ausweg? Vielleicht nicht. Nur wenige Minuten von der Bank entfernt, wo hinter der Spiegelfassade eine lange Schlange herausgeputzter Piqueuses auf ihr Schlechtwettergeld wartet, liegt die Meeresforschungsstation Shoals. Die unscheinbare Bungalowanlage an der Hafenbucht vor Port Mathurin beherbergt ein kleines Team britischer Wissenschaftler. Hier werden Suchexpeditionen nach noch unbekannten Tellerkorallen geplant, aber nicht nur. Die Truppe um Forschungsleiter Tom Hooper versucht auch, für Tintenfische und Frauen eine Überlebenschance zu finden.(...) Hooper hält zudem eine gute Botschaft bereit: Fünf bis zehn Jahre - länger dauert es nicht - und ein zertrampeltes Riff hat sich unter normalen Bedingungen regeneriert. Vorausgesetzt man pflanzt kleine Koralleninseln, die den toten Riffkörper wieder besiedeln. Doch vorläufig ist das Vision. Ein weiterer Tag neigt sich dem Ende zu. Der nächste Ebbezyklus ist da. Dunkel ragen die Umrisse der Speerfischerinnen aus dem Riff. Wie seit Generationen. Der volle Mond geht auf, die Sonne taucht unter den Horizont. Kosmische Schaukel der Gestirne. Und auf einmal hebt ein feuchtwarmer Wind an, wie der Atem des Silbermondes. Die Piqueuses schultern ihren Fang. Jägerinnen, umhüllt von grandioser Stille.

Weiterer Artikel zum Thema/related article: Silke Bender (dt.) ; Fabrice Bettex , please, read, find here the texts on his beautiful web site about octopus fishing (in engl., frc.) 

 Photo credits: Bernd Jonkmanns (1,3,4,5,8,9) , Fabrice Bettex (2,6, 7,11) 

Please find information about Shoals Rodrigues here..., and sure, Tom Hooper has returned to England, already for quite a while...  

Sorry, this article was written by a German journalist, published in German and so I keep it in German, at least for the moment...It's about the piqueuses d'ourites and Thomas Worm's experiences with them during his stay in March 2003, shortly after mayor cyclone Kalunde...

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